Samstag, 12. Dezember 2015

Weihnachtsküsse im Zirkuszelt [Leseprobe] Katja Schneidt


Bei jedem ihrer Schritte gab der Schnee unter ihren Füßen ein knirschendes Geräusch von sich. Mila blieb stehen und zog die altmodische, graue Wollstola, die sie sich achtlos über die Schultern geworfen hatte, etwas fester um ihren Oberkörper.
Es war so klirrend kalt, dass sich bei jedem Atemzug eine dichte Dampfwolke vor ihrem Gesicht bildete. Für einen kurzen Moment, dachte Mila an ihren behaglich warmen Wohnwagen. Sobald sie den kleinen Gasofen in Betrieb nahm, dauerte es keine fünf Minuten und es breitete sich eine wohlige Wärme aus. Das war einer der Vorteile, wenn man den größten Teil seines Lebens auf gerade mal 12 Quadratmetern verbrachte.
Milas Bruder Ben hatte ihr bereits mehrmals vorgeschlagen, sich doch endlich von ihrem über 20 Jahre alten Wohnwagen zu trennen und sich einen von den neueren Modellen zuzulegen, aber Mila hatte diesen Vorschlag bisher beharrlich abgelehnt.
Fast alle Zirkusleute hatten mittlerweile einen von diesen High Tech Wohnwägen, die durch das herausfahren der Seitenwände, teilweise auf über 40 Quadratmeter Wohnfläche kamen.
Ben war einer der letzten gewesen, der sich vor einem Jahr ebenfalls einen neuen Wohnwagen zugelegt hatte. Seit dem Tod ihrer Eltern, hatte er sich bis dahin mit Mila einen Caravan geteilt. Nachdem es zwischen ihm und der neuen Artistin Esther allerdings gefunkt hatte und die beiden ein Paar wurden, bestand Ben auf sein eigenes Reich.
Mila war das nur Recht. Ben war der Auffassung, dass er ständig auf Mila aufpassen müsste, damit seiner jüngeren Schwester niemand zu nahe kam und dieses Verhalten sorgte oft für Zündstoff zwischen den beiden. Mila fand das einfach nur lächerlich. Schließlich war Ben mit seinen 26 Jahren, gerade mal ein Jahr älter, als sie selbst. Seit Ihre Eltern mit dem Auto tödlich verunglückt waren, fühlte Ben sich für Mila offensichtlich verantwortlich.
„Was machst du denn noch hier draußen um diese Uhrzeit? Willst du dich erkälten?“
Wenn man vom Teufel sprach…Wie aus dem Nichts war Ben plötzlich hinter ihr aufgetaucht.
„Ich wollte nur nochmal schauen, ob die Pferde auch wirklich alle eine Decke tragen. Immerhin soll es heute Nacht Minus 10 Grad kalt werden“, antwortete Mila kleinlaut und scharrte verlegen mit ihrer Schuhspitze ein Muster in den Schnee. Sie spürte, wie sich in ihr ein Gefühl von Wut ausbreitete. Warum wurde sie im Umgang mit Ben immer so schnell unsicher? Sie war doch sonst auch nicht auf den Mund gefallen.
Ben stieß einen lauten Seufzer aus. „Mila, dafür ist Karl zuständig. Im liegen die Pferde genauso am Herzen wie dir. Schließlich arbeitet er schon über 20 Jahre als Tierpfleger in unserem Zirkus. Glaubst du wirklich, dass er das Risiko eingehen würde, dass eines der Pferde sich erkältet oder sogar eine Lungenentzündung bekommt?“
Mila sah, wie die dunkelbraunen Augen ihres Bruders in dem fahlen Licht der Scheinwerfer, die den Zirkusplatz auch nachts notdürftig beleuchteten, angriffslustig funkelten.
Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre dunkelblonden, gelockten Haare und schob ihre Unterlippe trotzig nach vorne.
„Ich wüsste nicht, dass ich von dir eine Erlaubnis bräuchte, wenn ich nach unseren Tieren sehen möchte. Immerhin gehört mir auch die Hälfte vom Zirkus“, preschte Mila mutig nach vorne.
Ben zog erstaunt eine Augenbraue nach oben und hob abwehrend beide Hände. „Hey, warum bist du so aggressiv? Ich mache mir doch nur Sorgen um dich“, antwortete er beschwichtigend.
Sofort überkam sie der Anflug eines schlechten Gewissens. Sollte sie nicht froh sein, dass sie so einen fürsorglichen Bruder hatte?
„Ich schaue nur schnell nach und gehe dann sofort wieder in den Caravan“, schlug Mila nun ebenfalls einen versöhnlichen Ton an.
Ben zuckte die Schultern. „Wenn du dich dann besser fühlst…“
„Ja, ich würde mich besser fühlen.“ Mila nickte. Ihre Füße fühlten sich mittlerweile an, als ob sie aus purem Eis bestünden. Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere.
„Du weißt, dass du auch jederzeit Ester und mir einen Besuch abstatten kannst, für den Fall, dass du dich einsam fühlen solltest.“ Ben hatte seine Hände in die Hosentaschen gestopft und nickte Mila aufmunternd zu.
„Ich weiß, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich mit über 40 Zirkusleuten und rund 60 Tieren einsam fühlen sollte, ist sehr gering. Das musst du zugeben.“ Mila verzog ihre Lippen zu einem Grinsen.
„Ich wollte es nur gesagt haben.“ Ben verdrehte die Augen. „Ich geh dann mal wieder. Schlaf gut.“
„Schlaf du auch gut.“ Mila winkte ihrem Bruder noch kurz zu und eilte dann zu dem blau-weiß gestreiften Zelt, in dem die Pferde untergebracht waren. Die acht schneeweißen Lipizzaner waren der ganze Stolz des Zirkus. Sie waren für ihre außergewöhnliche Dressurnummer bekannt und sogar das Fernsehen hatte schon darüber berichtet.
Milas Vater hatte die Pferde dressiert. Mit viel Liebe und Geduld, hatte er Ihnen die Kunststücke beigebracht. Milas Vater hatte nichts von Gewalt und Strenge gehalten und war all seinen Tieren stets auf Augenhöhe begegnet.
Mila konnte sich noch gut daran erinnern, als ihr Vater mal überraschend in den Stall kam und einen jungen Tierpfleger dabei erwischt hatte, wie er dem Hengst Sultan mit der flachen Hand auf die Nüstern geschlagen hatte.
Der Pfleger bekam sofort die fristlose Kündigung und musste den Zirkus noch am selben Tag verlassen. In diesem Moment war sie unglaublich stolz auf ihren Vater gewesen.
Vorsichtig schob Mila den schweren Plastikvorhang zur Seite, der das Zelt vor dem eindringendem Wind und Kälte schützte. Von der Zeltdecke baumelte eine Glühbirne, die mit ihrem fahlen Licht für eine schwache Beleuchtung sorgte.
Obwohl die Pferde längst vor sich hin dösten und Mila sich wirklich Mühe gab, leise zu sein, blieb ihr später Besuch nicht unentdeckt. Sultan war der erste, der neugierig seine Ohren spitzte und Mila mit einem leisen Schnauben durch seine Nüstern, zu verstehen gab, dass er sich freute sie zu sehen. Mila schlang ihre Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht in seiner langen, seidigen Mähne. Sein Körper war noch von der anstrengenden Zirkusvorstellung erhitzt. Mila ließ ihre Hand unter Sultans Pferdedecke gleiten, um sich zu vergewissern, dass Karl die Tiere auch wirklich trocken gerieben hatte. Ein schwitzendes Pferd in einem kalten Zelt, konnte seinen Tod bedeuten.
Zu ihrer Erleichterung fühlte sich Sultans Fell aber trocken an.
Mittlerweile hatten auch die anderen Pferde Milas Anwesenheit wahrgenommen und einige scharrten unruhig mit ihren Hufen. Normalerweise brachte Mila immer ein paar Leckereien in Form von Äpfeln oder Möhren mit, wenn sie in den Stall kam. Heute allerdings war sie mit leeren Händen gekommen. Eigentlich hatte Mila schon in ihrem Bett gelegen, als sie plötzlich von einer seltsamen Unruhe erfasst wurde und den unbändigen Drang verspürte, nochmal nach den Pferden zu sehen. Sie hatte selbst keine Erklärung dafür.
Langsam löste sie ihre Arme von Sultans Hals und ließ auch den anderen Pferden eine kurze Streicheleinheit zukommen. Plötzlich spürte Mila wie sie zitterte. Der Winter hatte in diesem Jahr schon vergleichsweise früh Einzug gehalten und obwohl es erst Anfang Dezember war, hatte es die vergangene Woche an fast jedem Tag geschneit.
Im Gegensatz zu den Pferden, die alle eine dicke Pferdedecke trugen, war Mila mit ihrer Wollstola viel zu dünn angezogen.
Sie war gerade im Begriff zu gehen, als sie plötzlich ein Räuspern hinter sich hörte.

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